Fachwissen
Sexuelle Reifeentwicklung & Menarchealter
Bedeutung des psychosozialen Umfeldes damals und heute
von Prof. Dr. med. Michael Hermanussen, Andreas Lehmann und Dr. Christiane Scheffler
aus korasion Nr. 1, Februar 2012
Zwischen dem Alter beim Auftreten der ersten Menstruation (Menarche) und den Lebensumständen besteht ein statistischer Zusammenhang. Parallel zu den historischen Umwälzungen der zweiten Hälfte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist das mittlere Menarchealter von zirka 18 auf derzeit zirka 13 Jahre in Nord- und 12 Jahre in Südeuropa gesunken. Darüber hinaus ist auch das Zeitfenster insgesamt schmaler, in dem die Menarche heute auftritt. In der Mitte des 19. Jahrhunderts menstruierten 95 Prozent der jungen Frauen erstmals im Zeitfenster zwischen 12,5 und 21,5 Jahren, 95 Prozent der modernen Mädchen demgegenüber zwischen 11 und 15 Jahren. Der säkulare Trend im Menarchealter wird allgemein als das Resultat einer Abnahme von sozialen und ökonomischen Störfaktoren verstanden. Die vorliegenden Daten wecken jedoch Zweifel, ob die mehrjährige Verspätung der Menarche in der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich ernährungs- oder krankheitsbedingt war.
1848 menstruierten zum Beispiel laut einer Studie über die Zeit des Eintritts der Menstruation nach Angabe von 3 000 schwangeren Frauen in der königlichen Universitätsentbindungsanstalt zu Marburg mehr als 97 Prozent dieser gesunden Marburger Frauen später als die Frauen der heutigen Unterschicht (Westhoff 1873). Moderne Untersuchungen zur Bedeutung von sozialen Netzwerken legen nahe, dass die deutliche Verspätung der Menarche bei gesunden jungen Frauen auch der oberen gesellschaftlichen Schicht aus dem 19. Jahrhundert jedoch nicht Ausdruck einer somatischen Störung war, sondern durch das psychosoziale Umfeld und die peer group verursacht und daher sozusagen im Sinne einer sozialen Amenorrhö verstanden werden kann.
Wohlstand, Entwicklungstempo und Menarche
Die enge statistische Beziehung zwischen Wohlstand, Gesundheit, Lebenserwartung und Körperhöhe ist in zahlreichen Studien – besonders anhand der Europäischen und der US-amerikanischen Bevölkerung – belegt (Fogel 2004). Ähnliche Beziehungen bestehen zwischen Wohlstand und dem Tempo, in dem Kinder und Jugendliche sich entwickeln und sexuell reifen. Das Tempo beziehungsweise die Geschwindigkeit, mit der ein Kind biologisch reift, ist nicht bei allen Kindern gleich. Manche Jugendliche von heute sehen mit 12 Jahren noch aus wie 10-Jährige, sind entsprechend groß und haben auch noch nicht mit ihrer sexuellen Reifeentwicklung begonnen. Andere Jugendliche sehen mit 12 Jahren schon fast wie Erwachsen aus und sind unter anderem auch sexuell viel weiter entwickelt als ihre Altersgenossen. Aussehen und biologische Reife gehen dabei nicht immer Hand in Hand mit der psychologischen und schulischen Entwicklung. Die biologische Reife korreliert jedoch meist eng mit dem Wachstum und der knöchernen Entwicklung.
Im Gegensatz zur Körperhöhe ist das Messen von Entwicklungstempi nicht ganz trivial. Bei medizinischen Fragestellungen gelten ein Röntgenbild der linken Hand sowie in der Adoleszenz die Pubertätsstadien nach Tanner (Bogin 1999) als verlässliche Indikatoren für das biologische Alter. Röntgenbild und Pubertätsstadien sind jedoch Parameter, die sich zwar für moderne Fragestellungen an Patientinnen, nicht aber für historische Untersuchungen eignen. Hier müssen Ersatzparameter gefunden werden: entweder das Alter zum Zeitpunkt der maximalen pubertären Wachstumsgeschwindigkeit (peak height velocity) oder das Alter zum Eintritt der ersten Regelblutung. Beide Parameter werden traditionell gerne verwendet, um das Entwicklungstempo einer Population zu schätzen. Der Zeitpunkt der ersten Regelblutung wurde in großen Stichproben bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dokumentiert. Mit Ausnahme von Extremsituationen wie Krieg, Gefangenschaft und Hunger, in denen bei vielen Frauen die Menstruation ausbleibt (Lager-, Flucht- und Hungeramenorrhö), tritt die Menarche – auch unter suboptimalen Lebensbedingungen – zumeist spontan auf, wenn auch zuweilen erst im dritten Lebensjahrzehnt.
Historische Entwicklung des Menarchealters
Zwischen dem Alter beim Auftreten der ersten Menstruation (Menarche) und den Lebensumständen besteht ein statistischer Zusammenhang. Wie erwähnt sinkt aber nicht nur das mittlere Alter. Auch das Zeitfenster, in dem die Menarche auftritt, ist heute schmaler. Eine Dissertation mit Daten von 3 000 fertilen Frauen aus der Gebäranstalt Marburg (Westhoff 1873) zeigt, wie erwähnt, dass in der Mitte des 19. Jahrhunderts 95 Prozent der jungen Frauen die Menarche in einem Zeitfenster zwischen 12,5 und 21,5 Jahren erlebten, während die Menarche bei 95 Prozent der modernen Mädchen bereits zwischen 11 und 15 Jahren auftritt (Abb. 1). Trotz der unterschiedlichen Breite der Streuung ist das Eintrittsalter der Menarche in beiden Fällen annähernd normal verteilt.
Die zitierte Arbeit aus der Gebäranstalt Marburg steht nicht allein. Abb. 2 zwei zeigt die Veränderung des mittleren Menarchealters über einen Zeitraum von etwa 160 Jahren (Lehmann et al. 2010). Wie in fast allen europäisch Ländern sinkt auch in Deutschland das Alter von 18 Jahren in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf 16 Jahre um 1900 sowie – in den urbanen Regionen Deutschlands bereits in den 1930er-Jahren – auf moderne Werte: 12,6 Jahre in Leipzig 1934 und 13,3 Jahre in Halle 1939. In den ländlichen Regionen und in den unteren sozialen Schichten menstruierten junge Frauen bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts spät.
Seit den 1960er-Jahren ist das Menarchealter in ganz Zentraleuropa relativ stabil. Es sinkt erst seit wenigen Jahren erneut, jetzt schichtspezifisch und vor allem mit steigendem Body Mass Index (BMI). Es liegt derzeit in Deutschland bei 12,7 (niedriger Sozialstatus) und 13,0 (hoher Sozialstatus) beziehungsweise je nach Migrationshintergrund bei 12,5 (mit) und 12,9 Jahren (ohne Migrationshintergrund). Auch die Streubreite des Menarchealters ist in der Vergangenheit gesunken (Abb. 3), in enger Assoziation mit den jeweiligen Mittelwerten. Nur während der beiden Weltkriege findet sich erneut eine interkurrente Verspätung und eine verbreiterte Streuung des Menarchealters. Trotz der schwierigen politischen und ökonomischen Situation war diese temporäre Veränderung aber bei Weitem nicht so ausgeprägt wie 50 Jahre früher in den Friedenszeiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Einfluss von Ernährung und Gesundheit
Der säkulare Trend im Menarchealter wird allgemein als das Resultat einer Verbesserung von Ernährung und Gesundheit sowie einer Abnahme von sozialen und ökonomischen Störfaktoren verstanden. Die vormals ungünstigen Bedingungen des 19. Jahrhunderts verschwinden. Entsprechend können sich Wachstum und Entwicklung der Kinder heute besser entfalten. Die Kinder werden größer und ihr Entwicklungstempo beschleunigt sich. Diese Betrachtungsweise setzt allerdings die Annahme voraus, dass die Mehrzahl der jungen Frauen vor 160 Jahren tatsächlich mangelernährt, krank oder sozial depriviert war. Es fällt aber schwer zu glauben, dass die jungen Frauen aus den urbanen Zentren des 19. Jahrhunderts unter schlechteren sozialen und ökonomischen Bedingungen lebten oder schlechter ernährt waren als zu Zeiten des Zweiten Weltkrieges, und schlechter als die drei Prozent der sozial schwächsten und am schwersten benachteiligten Frauen von heute.
Zweifel an den heutigen Erklärungsversuchen
Westhoff analysierte die Randbereiche der Menarcheverteilung von 1848. Bei zweihundert der 3 000 Frauen seiner Studie trat die Menarche im Alter zwischen 10 und 13 oder zwischen 22 und 28 Jahren auf. Westhoff notierte explizit, dass 179 dieser Frauen „bis zum Eintritt der Menstruation stets gesund“ waren. Er fand lediglich 21 „kränkliche“ Frauen, die an Chorea, Rachitis, Epilepsie oder an Chlorose litten. Ferner notierte er, dass „große und kräftige“ Frauen im Mittel mit 17,23 Jahren und „kleine und schwächliche“ Frauen im Mittel mit 18,22 Jahren erstmals menstruierten. Mit anderen Worten: Auch vergleichsweise große und kräftige Frauen begannen mehr als vier Jahre später zu menstruieren als junge Frauen von heute. Angaben zum familiären, sozialen und ökonomischen Umfeld der Patientinnen der Gebäranstalt fehlen. Die Daten wecken insgesamt Zweifel, ob die mehrjährige Verspätung der Menarche in der Mitte des 19. Jahrhunderts tatsächlich ernährungs- oder krankheitsbedingt war. Wachstums studien derselben historischen Epoche vermitteln einen anderen Eindruck. Abb. 4 illustriert Kurven der Wachstumsgeschwindigkeit aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert im Vergleich mit WHO-Referenzwerten von 2011. Die historischen Kurven sind verzögert, aber kaum mehr als ein bis zwei Jahre, was nicht zum Menarchealter passt.
Heute setzt die Menarche in der mittleren Pubertät unmittelbar nach der peak height velocity des Pubertätswachstumsschubes ein (Bogin 1999). Man sollte erwarten, dass die Menarche auch im 19. und frühen 20. Jahrhundert unmittelbar zu diesem Zeitpunkt einsetzte. Dies ist aber nicht der Fall. Es kam seinerzeit vielmehr zu einer Entkopplung von Wachstum und Menarche. Während die peak height velocities der historischen Kurven lediglich um ein bis zwei Jahre zurücklagen, war die Menarche um mehrere Jahre retardiert. Das timing der Menarche auch bei gesunden Frauen der oberen gesellschaftlichen Schicht hing im 19. Jahrhundert also offenbar von anderen als den bisher diskutierten Faktoren ab. Moderne mathematische Untersuchungen von sozialen Netzwerken, gezeigt wurde dies insbesondere für das Auftreten von Adipositas (Christakis u. Folwer 2009), unterstreichen die Bedeutung des psychosozialen Umfeldes und der peer group für das Verständnis von biologischen Prozessen. In diesem Sinne verstehen wir die kollektive Verspätung des Menarchealters als „soziale Amenorrhö“.
Kollektive soziale Amenorrhö
Solche Überlegungen werfen zahlreiche weitere Fragen auf. Ist die Entkopplung von körperlichem Wachstum und Menarche eine Normvariante der Sexualentwicklung? Hat soziale Amenorrhö möglicherweise einen evolutionären Nutzen? Sie minimiert unter dem Aspekt ökonomischer Ressourcenverwaltung für den weiblichen Organismus das Risiko früher Gravidität. Darüber hinaus liegt auch der Nutzen eines Ausbleibens des regelmäßigen monatlichen Blutverlustes auf der Hand. Auf der anderen Seite erscheint es einsichtig, dass junge Frauen in einer modernen, sexuell aufgeklärten, aber gleichzeitig intensiv mit Sexualität konfrontierten Gesellschaft früh „sexy“ werden und mit allen Zeichen weiblicher Sexualität versehen sein wollen. Trotzdem kann man nur darüber spekulieren, warum und über welche Mechanismen sich heutige Mädchen hinsichtlich ihrer ersten Regelblutung „absprechen“ und imstande sind, diese – im Gegensatz zu früher – in ein Zeitfenster von nur wenigen Jahren zu terminieren.
Uns sind keine Studien aus dem 19.Jahrhundert bekannt, in denen das Auftreten beziehungsweise die Entkopplung von körperlichen Reifezeichen und Menarche longitudinal untersucht wurde, das heißt bei denselben Probanden. Wir können vermuten, dass junge Mädchen die restriktiven Verhaltenskodices der damaligen bürgerlichen Gesellschaft betreffend Sexualität nicht nur sehr unterschiedlich wahrgenommen haben, sondern dass sich diese individuelle Variabilität in der Wahrnehmung auch in der Streubreite des Menarchealters manifestiert hat.
Fazit für die Praxis
Auch eine deutlich verspätete Menarche bei sonst unauffälliger körperlicher Reifeentwicklung muss nicht gleichzeitig Ausdruck einer somatischen Störung sein. Sie kann quasi als soziale Amenorrhö verstanden werden, verursacht durch das psychosoziale Umfeld, die peer group und das eigene individuelle Erleben von Sexualität.
Danksagung
Unsere Studie wurde von der Deutschen Gesellschaft für Auxologie unterstützt.
Korrespondenzadresse:
Prof. Dr. med. Michael Hermanussen
Kinderarztpraxis
Herrenstraße 23
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