Fachwissen

Genitale Anomalien im Kindes- und Jugendalter

Die Bedeutung genitaler Fehlbildungen bei Mädchen für die spätere Sexualität und Fertilität

von Dr. med. Patricia Oppelt

aus korasion Nr. 4, November 2009

Die Entwicklung des weiblichen Genitales lässt sich zum einen in die embryonale Entwicklung sowie zum anderen in die Ausdifferenzierung der sekundären Geschlechtsmerkmale in der Pubertät unterteilen. In der gesamten Phase der embryonalen Entwicklung können Störungen auftreten, die einen Einfluss auf die Ausprägung der primären und sekundären Geschlechtsmerkmale haben. Die genitalen Fehlbildungen wiederum können die zukünftige Fertilität und Sexualität der Frau maßgeblich beeinflussen.

Grundsätzlich stellt sich bei Kindern und Jugendlichen mit Verdacht auf genitale Fehlbildungen primär die Frage nach Art und Ausmaß der diagnostischen beziehungsweise therapeutischen Maßnahmen. Bei der Diagnostik genitaler Fehlbildungen wird der behandelnde Arzt sehr früh – häufig bereits bei der Erstkonsultation – neben der Frage der möglichen Fehlbildung auch mit der Frage von Teenagern und Eltern konfrontiert: Kann ich/meine Tochter später Kinder bekommen? Somit scheint der Wunsch der Mädchen oder der Eltern, insbesondere der Mütter, auf eine normale Fertilität eine zentrale Rolle zu spielen.

Welche genitalen Fehlbildungen des Kindes- und Jugendalters haben einen Einfluss auf die spätere Fertilität?

Fehlbildungen des äußeren Genitales werden meist im Kindesalter, vaginale Fehlbildungen meist erst in der Pubertät, uterine Fehlbildungen häufig erst in der reproduktiven Lebensphase festgestellt. Ovarielle Fehlbildungen werden ähnlich wie vaginale Fehlbildungen in der Zeitphase der vermeintlichen Pubertät oder auch aufgrund der ausbleibenden Pubertät festgestellt. Bis circa zur 7. Schwangerschaftswoche (SSW) liegt die Genitalanlage in einem Indifferenzstadium vor. Danach entwickelt sich abhängig vom Vorhandensein des Y-Chromosoms ein männliches oder ein weibliches Genitale aus.

Labienhypertrophie und -asymmetrie

Es bestehen viele Variationen in der Ausbildung der Labien. Häufig sind junge Mädchen verunsichert, ob ihr äußeres Genitale „normal“ ist. Eine Labienasymmetrie und Labienhypertrophie kannunterschiedlich ausgeprägt sein, die Übergänge sind fließend. Immer häufiger empfinden junge Mädchen ihre augenscheinlich normalen Labien als zu groß, unter anderem infolge verstärkter Wahrnehmung bei und nach der heute üblichen Rasur der Schambehaarung. Eine operative Intervention in Form einer Korrektur bezeihungsweise Resektion ist in der Regel nur dann indiziert, wenn die junge Frau in ihren täglichen Aktivitäten und damit ihrer Lebensqualität, zum Beispiel bei sportlichen Aktivitäten, beeinträchtigt wird oder ein großer seelischer Leidensdruck besteht. Bei Letzterem muss hinterfragt werden, ob die Korrektur eher rein ästhetische Gründe hat und eigentlich nicht doch ein Normalbild vorliegt.

Die Labienvariationen sind mit keinen zusätzlichen Auffälligkeiten des Genitales verbunden und haben keine Auswirkungen auf die spätere Fertilität.

Fehlbildungen des Hymens

Hymenalpolypen als polypöses Hautanhängsel gehen in der Basis vom Hymen aus. Sie kommen meist als einzelner Polyp vor, die jedoch von unterschiedlicher Größe der Basis sowie der Länge sein können, was unter Umständen mehrere Zentimeter ausmacht. Auch hier finden sich keine weiteren Fehlbildungen des Genitales, und es gibt somit keine Einschränkung der Fertilität.

Hymenanomalien mit Öffnungen sind Hymenalsepten, die einen strangförmigen Verschluss des Introitus vaginae darstellen. Sie können unterschiedlich ausgeprägt sein. Unterschieden werden das Hymen septus, Hymen anularis, Hymen cribriformis und das Hymen altus. Die Scheide ist meist nicht beteiligt. Die Patientin berichtet von Schwierigkeiten beim Einführen von Tampons oder beim Geschlechtsverkehr, meist ist aber eher das Entfernen des Tampons erschwert. Beim Hymen altus, bei dem die obere Hymenalbegrenzung unter Umständen bis zum Ostium urethrae reicht, kann Urin in die Scheide fließen. Dieses verursacht weiteres Nachtropfen und gegebenenfalls rezidivierende Infektionen des Urogenitaltraktes. Diese Anomalien sind mit keinen weiteren Fehlbildungen verbunden und haben nach der Behebung, um Geschlechtsverkehr zu ermöglichen, keine weitere Auswirkungen auf die Fertilität.

Bei den Fehlbildungen des Hymens ist auch die Hymenalatresie zu nennen. So wird der Verschluss der Vagina durch ein nicht perforierbares Hymen bezeichnet. Es ist die häufigste genitale Verschlussstörung bei normaler Uterus- und Vaginalanlage. Die Diagnose wird häufig erst in der Pubertät bei primärer Amenorrhö gestellt. Eine Hymenalatresie lässt sich auch bereits im Säuglingsalter durch den Mukokolpos diagnostizieren. Auch die Hymenalatresie ist eine singulär auftretende Fehlbildung, die nach operativer Sanierung vor Eintritt der Menarche keine weiteren Einflüsse auf die Fertilität hat.

Genitale Fehlbildungen am inneren Genitale

Die Vaginalatresie oder auch -aplasie ist fast immer mit einer Uterusaplasie kombiniert. Daher wird auf diese Fehlbildungen im Abschnitt über komplexe Fehlbildungen eingegangen. Darüber hinaus können beim inneren Genitale Vaginalsepten vorkommen. Diese Scheidensepten trennen die Scheide in unterschiedlichem Ausmaß. Unterschieden werden das transversale und das longitudinale Septum. Eine Bedeutung für die spätere Fertilität besteht bei beiden Septumformen. So findet sich beim longitudinalen Septum sehr häufig ein Uterus bicornis mit zwei Portiones, auch Uterus didelphys genannt.

Beim transversalen Septum findet sich häufig ein Uterus bicornis mit einer Portio. Dem Erkrankungsbild liegt eine Hemmungsfehlbildung in der Vereinigung der Müller-Gänge zu- grunde. Hier finden sich ein deutlich erhöhtes Abortrisiko und Frühgeburtlichkeit. Das transversale Septum scheint zusätzlich noch eine Assoziation zur Endometriose aufzuweisen, was einen zusätzlichen Einfluss auf die Fertilität hat. Hier ist das Auftreten der Endometriose abhängig vom Sitz des Septums. Die transversalen Septen können im unteren, distalen Teil, im mittleren Drittel oder oberen Drittel der Scheide vorkommen. Die angegebenen Schwangerschaftsraten schwanken zwischen 100 Prozent bei im distalen Drittel, 40 Prozent bei im mittleren Drittel und 20 Prozent bei im oberen Drittel gelegenen Septen.

Uterine Fehlbildungen, wie Uterussepten oder Doppelfehlbildungen des Uterus, werden häufig erst in der reproduktiven Lebensphase festgestellt. Deshalb soll auf dieses Thema nicht näher eingegangen werden. Bei diesen Patientinnen liegt häufig nach Grad der Fehlbildung eine Sterilität beziehungsweise Infertilität vor, sodass sie sich an eine Kinderwunschsprechstunde wenden, wo letztendlich die Fehlbildung diagnostiziert wird.

Komplexe genitale Fehlbildungen

Bei den komplexen Fehlbildungen findet sich beim Mayer-Rokitansky-Küster- Hauser-Syndrom oder dem kompletten Androgenrezeptordefekt neben einer Vaginalaplasie auch eine Uterusaplasie. Das Leitsymptom ist auch hier die primäre Amenorrhö ohne Unterbauchbeschwerden. Beim Adrenogenitalen Syndrom unterscheidet man das klassische AGS mit und ohne Salzverlust und das late-onset AGS. Je nach Ausprägung kommt es zur Vermännlichung des äußeren Genitales, mit Sinus urogenitalis bei meist normal ausgeprägtem Uterus. Dem Turner-Syndrom liegt eine Gonadendysgenesie zugrunde. Das Turner-Syndrom ist die häufigste Form der Gonadendysgenesie. Die Ausbildung der Gebärmutter kann hier von normal bis rudimentär variieren. In diesem Beitrag soll auf das MRKH und den kompletten Androgenrezeptordefekt eingegangen werden.

Das Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser-Syndrom (MRKH-Syndrom)

Mädchen mit MRKH-Syndrom haben keine Scheiden- und Uterusanlage. Die kleinen und großen Schamlippen sowie die Klitoris sind normal angelegt. Die Ovarien sind ebenfalls regelgerecht angelegt und haben ihre volle Funktionsfähigkeit, sodass die Ausbildung der sekundären Geschlechtsmerkmale (Pubarche, Thelarche) nicht beeinträchtigt ist und dem Alter entsprechend normal erscheint. Was kann man den Mädchen/Eltern bezüglich eines Kinderwunsches nun mit auf den Weg geben? Die operative Scheidenanlage zur Erlangung einer normalen Kohabitation und sexuellen Lebensqualität ist heute kein größeres technisches Problem mehr. Hierfür werden mehr als 100 Verfahren beschrieben, die allerdings fast alle eine postoperative Prothesenbehandlung bis zur Aufnahme des Geschlechtsverkehrs verlangen, um Adhäsionen zu vermeiden.

Insgesamt hat sich die laparoskopisch assistierte Neovagina modifiziert nach Vecchetti durchgesetzt. Die konservative Methode der eigenen Dehnung mit dem Finger oder einem Dilatator sollte den Mädchen alternativ angeboten und erläutert werden, wenn ein kleines Scheidengrübchen vorhanden ist. Den Mädchen fehlt bei normaler Ovarfunktion der „Schwangerschaftshalter“. Für diese Mädchen ist es möglich, über eine Leihmutterschaft, die in Deutschland verboten ist, genetisch eigene Nachkommen zu bekommen. Hierfür müsste die Betroffene eine künstliche Befruchtung zur Eizellgewinnung durchführen. Der durch IVF / ICSI gewonnene Embryo müsste dann von einer Leihmutter ausgetragen werden.

CAIS – der komplette Androgenrezeptordefekt

Hier liegt ein kompletter peripherer Defekt des Androgenrezeptors zugrunde. Der Genotyp der Patientinnen ist männlich (XY). Aufgrund des vorhandenen Y-Chromosoms bilden sich in der Embryonalentwicklung Hoden aus. Diese bilden Androgene, die aber an den Erfolgsorganen nicht wirken können, sodass sich die indifferenten äußeren Geschlechtsanlagen weiblich ausbilden. Warum haben diese XY-Mädchen keine oder eine verkürzte Scheide und keine Gebärmutter? Die inneren Geschlechtsorgane werden beim Mann aus den Wolff-Gängen und bei der Frau von den Müller-Gängen ausgebildet. Durch das Y-Chromosom wird aber das Anti-Müller-Hormon gebildet, welches wirken kann und zum Rückgang der Müller-Gänge führt. Somit bilden sich keine Scheide und Uterus aus.

Phänotypisch unterscheiden sich die Mädchen mit CAIS vom MRKH-Syndrom durch die Körperhöhe (> 170 cm) sowie die fehlende oder nur sehr spärliche Achsel- und Schambehaarung. Man spricht auch von den „Hairless Women“. Die Scheidenaplasie ist bei der kompletten Androgenresistenz nicht so extrem ausgebildet wie beim MRKH. Die Hoden befinden sich meist in Ovarstellung, können aber auch in den Leistenkanal oder in die großen Labien deszendiert sein. Durch die Chromosomenanalyse können die Patientinnen mit CAIS von denen mit MRKH sicher unterschieden werden. Die Bildung einer Neovagina kann wie beim MRKH durch konservative Dehnung oder operativ erfolgen. Für diese Patientinnen besteht eine Infertilität, die durch keine reproduktionsmedizinischen Maßnahmen therapiert werden kann. Als einzige Alternative bleibt diesen Mädchen die Option einer späteren Adoption.

Korrespondenzadresse:

Dr. med. Patricia G. Oppelt
Frauenklinik
Universitätsklinikum Erlangen
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