Fachwissen
Gibt es Verhaltensindikatoren für sexuellen Missbrauch?
Renate Volbert
aus korasion Nr. 3, Oktober 2005
Die Beschäftigung mit psychischen Symptomen nach sexuellem Missbrauch ist unter zwei voneinander zu unterscheidenden Fragestellungen von Bedeutung:
- Mit welchen Folgen ist bei einem Kind zu rechnen, von dem bekannt ist, dass es sexuell missbraucht wurde?
- Gibt es bestimmte Symptome, aufgrund derer angenommen werden kann, dass ein Kind, über das bislang keine entsprechenden Informationen bekannt sind, sexuell missbraucht wurde?
Welche psychischen Folgen können nach sexuellem Missbrauch eintreten?
Bei den Folgen ist zunächst zu unterscheiden zwischen solchen, die auf die gesamte Entwicklung Einfluss nehmen (generalisierte Folgen), und solchen, die sich eher auf umschriebene Auswirkungen beziehen (Finkelhor, 1995). Bei den umschriebenen Auswirkungen handelt es sich insbesondere um verschiedene Formen von Angst, z.B. Angst vor dem Ort, an dem etwas passierte, Angst vor ähnlich aussehenden Personen, Alpträume etc. Zu generalisierten Folgen kann es bei Kindern besonders dann kommen, wenn durch das Delikt verursachte Schäden dazu führen, dass bestimmte Entwicklungsaufgaben nicht mehr adäquat gelöst werden können und dies wiederum Auswirkungen auf die anschließende Entwicklung hat (z.B. Störungen im Bindungsverhalten, im Selbstwerterleben oder in der sexuellen Entwicklung). Solche generalisierten Folgen treten vor allem auf, wenn:
- der Missbrauch häufig passierte und sich über einen längeren Zeitraum erstreckte;
- der Missbrauch unmittelbaren Einfluss auf das bestehende primäre Unterstützungssystem hatte (z.B. wenn ein Missbrauch durch den Vater erfolgte oder wenn das Kind als Folge eines Missbrauchs entweder zurückgewiesen oder überbeschützend behandelt wurde);
- der Missbrauch zu anderen belastenden Lebensereignissen hinzukam;
- der Missbrauch in einem entscheidenden Entwicklungsübergang passierte (z.B. ein sexueller Übergriff bei der ersten Verabredung eines jungen Mädchens).
Vergleiche zwischen sexuell missbrauchten und nicht missbrauchten Kindern
Bei Vergleichen von sexuell missbrauchten Kindern mit nicht missbrauchten Kindern zeigten sich deutliche Unterschiede. Die missbrauchten Kinder wiesen bei allen folgenden untersuchten Symptomen höhere Werte auf als nicht missbrauchte Kinder (Kendall-Takkett et al., 1993):
- Furcht,
- Alpträume,
- Posttraumatische Belastungsstörungen,
- Depression und Rückzugsverhalten,
- Körperliche Beschwerden,
- Neurotische Störungen,
- Aggressionen,
- Delinquenz,
- Schul-/Lernprobleme,
- Verhaltensstörungen allgemeiner Art,
- Unangemessenes sexuelles Verhalten,
- Regressives Verhalten (Einkoten, Einnässen, Wutanfälle, Jammern),
- Internalisierung (Rückzugsverhalten, Depression, Ängstlichkeit, Hemmung, Überkontrolle),
- Externalisierung (Aggression, antisoziales und unkontrolliertes Verhalten).
Welche Faktoren haben Einfluss darauf, ob es nach einem Sexualdelikt zu psychischen Folgen kommt?
Diesbezüglich sind drei Einflussgrößen von Bedeutung:
Aspekte des Missbrauchs selbst:
Psychische Folgen treten vor allem auf, wenn es sich um mehrmaligen Missbrauch handelte, die Handlungen über einen längeren Zeitraum andauerten, Gewalt angewandt wurde, der Missbrauch durch eine nahestehende Person erfolgte und es sich um schwerere Deliktformen Penetrationen) handelte.
Aspekte seitens des Kindes:
- Zwischen dem Alter sowie dem Geschlecht des Kindes und dem Auftreten von Folgeschäden nach sexuellem Missbrauch bestehen keine eindeutigen Zusammenhänge.
- Kinder, die generell psychisch instabil sind und über unzureichende Strategien für die Bewältigung von Belastungen verfügen, reagieren eher mit psychischen Symptomen nach einer Missbrauchserfahrung als Kinder mit guten Bewältigungsstrategien.
- Bislang wenig untersucht wurde die Bedeutung von Interpretationen des Missbrauchs. Diese haben aber möglicherweise erheblichen Einfluss. So legen einige Untersuchungen nahe, dass Opfer, die sich selbst in starkem Maß die Schuld für den Missbrauch zuschreiben, unter ausgeprägteren Folgen leiden als Opfer, die ihren eigenen Schuldanteil gering bewerten (Spaccarelli und Fuchs, 1997).
Aspekte des sozialen Umfeldes:
- Kinder, die von ihrer Mutter wenig Unterstützung erfahren, zeigen nach einer Sexualstraftat mehr Symptome als Kinder mit unterstützenden Müttern (Überblick bei Friedrich, 1998).
Gibt es psychische Besonderheiten, die für sexuellen Missbrauch spezifisch sind?
Die referierten Auffälligkeiten treten allerdings auch bei Kindern auf, die wegen anderer Probleme in Beratungsstellen oder Kliniken vorgestellt und nicht sexuell missbraucht wurden. Bei Vergleichen zwischen sexuell missbrauchten Kindern und einer nicht missbrauchten, klinisch auffälligen Vergleichsgruppe zeigte sich in der Mehrheit der Studien sogar, dass die sexuell missbrauchten Kinder niedrigere Werte aufwiesen als die nicht missbrauchten Kinder aus der klinischen Vergleichsgruppe. Sexuell missbrauchte Kinder zeigten nur zwei Symptome übereinstimmend öfter als nicht missbrauchte, aber aus anderen Gründen auffällige Kinder, nämlich eine posttraumatische Belastungsstörung Fußnote1 (s.o.) und sexualisiertes Verhalten (Kendall-Takkett et al., 1993).
Es existiert auch kein einzelnes Symptom, das bei der Mehrheit der sexuell missbrauchten Kinder auftritt. Über alle Studien beträgt der Prozentsatz der Opfer mit einem bestimmten Symptom meist zwischen 20% und 30%. Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass ein nicht kleiner Anteil von Kindern nach sexuellem Missbrauch keine besonderen psychischen Auffälligkeiten aufweist (Kendall-Tackett et al., 1993). Ein spezifisches sexuelles Missbrauchssyndrom ist mithin nicht anzunehmen.
Weisen Auffälligkeiten im Sexualverhalten auf einen sexuellen Missbrauch hin?
Die bisher referierten Befunde zeigen, dass noch am ehesten Auffälligkeiten im Sexualverhalten von Kindern spezifisch sein können für einen sexuellen Missbrauch. Allerdings besteht Unsicherheit, wann von einer Auffälligkeit im Sexualverhalten von Kindern auszugehen ist.
Normale sexuelle Entwicklung
Untersuchungen zur sexuellen Entwicklung von Kindern zeigen konsistent, dass bei sehr vielen Kindern ab dem Ende des zweiten Lebensjahres absichtliches genitales Spiel zu beobachten ist und dass sehr viele Kinder, wahrscheinlich sogar die Mehrheit der Kinder im Alter bis sechs Jahren Formen selbststimulierender Betätigung zeigen. Ab dem zweiten Lebensjahr entwickeln Kinder auch zunehmend Interesse an den Genitalien anderer, beispielsweise von Eltern oder Geschwistern. Zu sexuellen Spielen mit anderen Kindern kommt es etwa ab dem dritten oder vierten Lebensjahr. Typische Formen soziosexueller Aktivitäten sind das Zeigen der eigenen Genitalien sowie das Anschauen und Berühren von Genitalien anderer. Dagegen sind oral-genitale Kontakte, das Einführen von Gegenständen in Vagina und Anus oder die versuchte Durchführung eines Geschlechtsverkehrs Formen sexueller Aktivität, die bei Kindern dieser Altergruppe selten zu beobachten sind (Überblick bei
Volbert, 1995).
Die vorliegenden Untersuchungen belegen ebenfalls konsistent einen altersabhängigen Verlauf: Sexuelle Aktivitäten sind bei Kindern zwischen zwei und fünf Jahren besonders häufig zu beobachten, danach sinkt die Häufigkeit der berichteten sexuellen Aktivitäten von Kindern steil ab, und sie werden seltener beobachtet als in den Jahren davor. Eine weitere Abnahme tritt dann noch einmal mit acht oder neun Jahren ein (u.a. Friedrich et al., 1991; 1998). Solange die Schamentwicklung noch nicht weit vorangeschritten ist, ist es durchaus üblich, sexuelle Verhaltensäußerungen auch in Gegenwart von Erwachsenen zu zeigen. Erst mit zunehmender Schamentwicklung verändert sich das Verhaltensmuster, und sexuelle Aktivitäten werden nicht mehr im Beisein von Erwachsenen durchgeführt.Ab etwa fünf Jahren gehen dann sexuelle Aktivitäten in Gegenwart von Erwachsenen ebenso zurück wie Verhaltensweisen, die Schamgrenzen von anderen wenig berücksichtigen (Friedrich et al., 1998). Solche Veränderungen im sexuellen Verhaltensmuster entsprechen also dem typischen Entwicklungsverlauf und haben nicht Hinweischarakter auf äußere Einflussfaktoren.
Retrospektive Daten indizieren zwar, dass die selbststimulierende Betätigung weiter fortgesetzt wird, solche Aktivitäten aber ab etwa dem sechsten Lebensjahr seltener zu beobachten sind. Demgegenüber ist aufgrund retrospektiver Daten anzunehmen, dass soziosexuelle Betätigungen in der mittleren Kindheit tatsächlich zurückgehen (Volbert und van der Zanden, 1996).
Generell ist von einer erheblichen Varianz zwischen den Kindern im Hinblick auf das Interesse an sexueller Betätigung (vgl. Rademakers, Laan und Straver, 2000) auszugehen, ebenso bestehen große interindividuelle Unterschiede bezüglich der Art der sexuellen Aktivitäten. Von daher kann von einem altersadäquaten sexuellen Verhalten in einer bestimmten Altersgruppe nicht in dem Sinne die Rede sein, dass bei jedem Kind ein bestimmtes Verhalten zu erwarten wäre.
Vergleich des sexuellen Verhaltens von missbrauchten und nicht missbrauchten Kindern
Ein systematischer Vergleich von missbrauchten und nicht missbrauchten Kindern mittels des Child Sexual Behavior Inventory (CSBI) Fußnote2 wurde 1992 von Friedrich et al. vorgenommen. Die Autoren fanden bei 27 der 35 erfragten Items zu sexuellen Verhaltensäußerungen von zwei- bis zwölfjährigen Kindern signifikant höhere Werte bei den 276 missbrauchten Kindern als in der Normstichprobe von 880 Kindern. Es gab jedoch kein Item, welches in der nicht missbrauchten Stichprobe gar nicht angegeben wurde. Auch beim Gesamtscore des CSBI fanden sich signifikante Unterschiede zwischen der missbrauchten und der nicht missbrauchten Gruppe, auch dann, wenn Alter, Geschlecht des Kindes, Ausbildung der Mutter und Familieneinkommen berücksichtigt wurden.Schwerere Missbrauchsformen, eine höhere Zahl von missbrauchenden Personen und die Anwendung von Gewalt oder die Drohung mit Gewalt korrelierten mit einem höheren CSBIWert. Allerdings unterschied sich die untersuchte Gruppe missbrauchter Kinder nicht nur hinsichtlich des sexuellen Missbrauchs von der Vergleichsgruppe, sondern auch hinsichtlich der Menge der sonstigen belastenden Lebensereignisse (z.B. Scheidung oder Trennung der Eltern, körperlicher Missbrauch, Tod eines Elternteils, Krankenhausaufenthalt des Kindes). Diese Variable wiederum erwies sich aber ebenfalls als signifikanter Prädiktor für erhöhte CSBI-Werte.
Von Friedrich et al. wurden 2001 die Ergebnisse einer zweiten CSBI-Normstichprobe (n = 1114; Friedrich et al., 1998) sowohl mit einer großen Stichprobe von missbrauchten Kindern (n = 620) als auch mit einer Gruppe von 577 kinderpsychiatrischen Patienten verglichen. Auch in diesen Fällen erwies sich, dass die Mütter sexuell missbrauchter Kinder eine höhere Frequenz von sexuellen Aktivitäten ihrer Kinder angaben als die Mütter der beiden anderen Gruppen, auch wenn das Ausmaß sonstiger belastender Lebensereignisse, das Familieneinkommen und die mütterliche Bildung berücksichtigt wurden. Diskriminanzanalysen zeigten jedoch auch, dass Kinder der klinischen Vergleichsgruppe relativ häufig auf der Basis des CSBI fälschlicherweise als sexuell missbraucht klassifiziert wurden.
Die Ergebnisse sprechen dafür, dass sexueller Missbrauch bei vielen Kindern zu verändertem sexuellen Verhalten führt, zeigt andererseits aber auch, dass es problematisch sein kann, Rückschlüsse auf einen sexuellen Missbrauch zu ziehen, wenn Kinder wegen Besonderheiten im sexuellen Verhalten vorgestellt werden. So kamen Drach, Wientzen und Ricci (2000) zu dem Ergebnis, dass bei 247 Kindern im Alter zwischen zwei und zwölf Jahren, die wegen des Verdachts des sexuellen Missbrauchs einem spezialisierten Team vorgestellt wurden, kein signifikanter Zusammenhang zwischen einem sexuellen Missbrauch und dem Gesamtscore des CSBI festgestellt werden konnte. In ihrer Stichprobe wurde – anders als in den zuvor erwähnten Untersuchungen – nicht eine Normstichprobe oder eine Kontrollgruppe mit einer Gruppe sexuell missbrauchter Kinder verglichen, vielmehr bestand bei allen untersuchten Kindern ein Verdacht auf sexuellen Missbrauch, der sich im weiteren Verlauf bei einem Teil der Kinder als hochwahrscheinlich, bei einem anderen Teil aber als hoch unwahrscheinlich erwies. In einer solchen Stichprobe ist der Anteil an Kindern mit Auffälligkeiten im Sexualverhalten und mit anderen Verhaltensauffälligkeiten gegenüber einer Normstichprobe erhöht. Innerhalb dieser Gruppe erwiesen sich die CSBI-Gesamtscores als nicht geeignet, zwischen missbrauchten und nicht missbrauchten Kindern zu unterscheiden.
Auch McNicol und McGregor (1999) fanden bei 81 Kindern, die wegen ihres sexualisierten Verhaltens in einer speziellen Behandlungseinrichtung vorgestellt wurden, nur in sechs Fällen einen sexuellen Missbrauch als Ursache für das auffällige Verhalten. Dagegen fanden Gray, Busconi, Houchens und Pithers (1997) einen Prozentsatz von 95% sexuell missbrauchter Kinder in einer Stichprobe von 72 sechs- bis zwölfjährigen Kindern, die sich wegen sexueller Auffälligkeiten in einem Behandlungsprogramm befanden. Andere wichtige Faktoren waren eine gestörte familiäre Situation und in manchen Fällen auch Kontakt zu anderen Kindern mit sexuell auffälligem Verhalten.
Definitionen von problematischem sexuellen Verhalten von Kindern
In den bisher referierten Untersuchungen wird implizit davon ausgegangen, dass das sexuelle Verhalten von Kindern auf einem Kontinuum zwischen normal und abweichend anzusiedeln ist, wobei vor allem auf die Menge unterschiedlicher sexueller Aktivitäten fokussiert wird. Lagerberg (2001) weist darauf hin, dass dies möglicherweise eine unzutreffende Modellvorstellung sei. Ebenso sei es möglich, dass „normales“ sexuelles Verhalten von Kindern ein Kontinuum von „gar kein feststellbares sexuelles Verhalten“ bis zu „alle erfragten sexuellen Verhaltensäußerungen“ umfassen könne und daneben ein Kontinuum abweichenden sexuellen Verhaltens von Kindern existiere, das sich vor allem in seiner Qualität von dem normalen Sexualverhalten von Kindern unterscheide.
In verschiedenen Arbeiten ist den Kontextbedingungen, unter denen sich kindliche Sexualität realisiert, besondere Bedeutung geschenkt worden. Johnson und Friend (1995) beschreiben folgende Randbedingungen als problematisch bei Kindern im Alter unter zwölf Jahren:
- Das sexuelle Verhalten bezieht sich auf andere Kinder, die nicht dem Alter bzw. dem Entwicklungsstand des Kindes entsprechen und mit denen das Kind ansonsten nicht in Beziehung steht.
- Sexuelle Interessen dominieren über längere Zeit nahezu alle anderen Interessen.
- Die sexuellen Aktivitäten erfahren über die Zeit eine Steigerung bezüglich der Häufigkeit, Intensität oder Aggressivität.
- Das sexuelle Verhalten ist verbunden mit Gefühlen von intensiver Scham, Schuld, Angst oder Ärger.
- Das sexuelle Verhalten ist physisch oder emotional schmerzhaft.
- Das sexuelle Verhalten ist verbunden mit verbaler oder physischer Aggression.
- Die sexuellen Aktivitäten werden in Gegenwart Erwachsener fortgesetzt, obwohl das Kind wiederholt aufgefordert wurde, dieses Verhalten zu unterlassen.
- Das sexuelle Verhalten erfolgt in der Öffentlichkeit, obwohl dem Kind erklärt wurde, dass es dort nicht angebracht ist.
- Das sexuelle Verhalten unterscheidet sich signifikant von sexuellen Verhaltensäußerungen altersgleicher Kinder mit demselben sozialen und kulturellen Hintergrund.
- Das sexuelle Verhalten wird von anderen Kindern als unangenehm erlebt.
- Das Kind wendet sich in sexueller Hinsicht so an Erwachsene, dass diese das als unangenehm erleben.
Zwar sind auch die von Johnson und Friend aufgeführten Merkmale problematischen sexuellen Verhaltens von Kindern nicht frei von wertenden Beschreibungen. So hat ein etwaiges „unangenehmes Erleben“ eines sexuellen Verhaltens eines Kindes mit den Vorerfahrungen und Interpretationen des Gegenübers zu tun und verweist nicht notwendigerweise auf Besonderheiten im Verhalten des Kindes. Ferner ist sicherlich auch nicht jedes Festhalten junger Kinder an eigentlich untersagten Aktivitäten als zwanghaftes Verhalten zu kategorisieren. Schließlich ist auch zu berücksichtigen, dass viele spielerische Interaktionen unter Kindern aggressive Aspekte beinhalten, so dass auch solche Momente in sexualbezogenen Interaktionen nicht überinterpretiert werden sollten (Schuhrke, 1994 ).
Der beschriebene Zugang macht aber deutlich, dass eine Auffälligkeit im Sexualverhalten eines Kindes nicht darin liegt, dass ein Kind überhaupt sexuelle Aktivitäten zeigt, sondern dass von Auffälligkeiten erst dann auszugehen ist, wenn die Beschäftigung mit Sexualität über einen längeren Zeitraum alle anderen Bereiche dominiert, wenn die sexuelle Betätigung mit negativen Affekten assoziiert ist und wenn sich Kinder in ihren sexuellen Aktivitäten nicht an die Kinder wenden, mit denen sie auch sonst in Beziehung stehen, sondern beispielsweise an wesentlich jüngere Kinder.
Aber auch diese problematischen Konstellationen können auf andere Ursachen als auf sexuellen Missbrauch zurückzuführen sein, beispielsweise auf eine Umgebung mit diffusen und instabilen sexuellen Grenzen, auf eine Umgebung, in der Sexualität mit Aggression gepaart ist, auf eine psychische oder emotionale Vernachlässigung oder auf einen Mangel an Betreuung und Aufsicht.
Resümee
Die vorliegenden Befunde zeigen, dass sich ein sexueller Missbrauch nicht aufgrund von Verhaltensauffälligkeiten feststellen lässt, dass ein solcher umgekehrt allerdings auch nicht aufgrund des Fehlens von Verhaltensauffälligkeiten ausgeschlossen werden kann. Es ist auch nicht von einfachen Zusammenhängen zwischen Missbrauch und bestimmten Folgeerscheinungen auszugehen, sondern die Deliktausgestaltung, die Täter-Opfer-Beziehung sowie die Vorgeschichte des Kindes tragen mit dazu bei, ob nach Missbrauch Folgeschäden zu beobachten sind oder nicht.
Theoretische Überlegungen zur Schädigungsdynamik bei sexuellem Missbrauch lassen bei einem Teil der Opfer Veränderungen im sexuellen Verhalten, bei jungen Kindern vor allem eine Zunahme sexueller Aktivitäten erwarten (Finkelhor und Browne, 1986). Diese Annahme wird prinzipiell durch empirische Untersuchungen bestätigt. Ein sexueller Missbrauch führt bei vielen Opfern zu einer Veränderung in deren sexuellen Verhaltensmustern, d.h. kindliche Opfer sexuellen Missbrauchs scheinen insgesamt mehr sexuelle Aktivitäten zu zeigen als nicht missbrauchte Kinder. Es lassen sich jedoch keine spezifischen sexuellen Verhaltensweisen identifizieren, die ausschließlich von Opfern eines sexuellen Missbrauchs demonstriert werden. Umgekehrt sind bei vielen sexuell missbrauchten Kindern keine Besonderheiten im Sexualverhalten zu beobachten.
Sexuelle Verhaltensäußerungen von Kindern sind Bestandteil normaler Entwicklung und nicht per se erklärungsbedürftig. Gerade bei Kindern im Alter zwischen zwei und sechs Jahren sind selbststimulierende Aktivitäten sowie das Zeigen der eigenen Genitalien und das Anschauen und Anfassen der Genitalien anderer Kinder bzw. vertrauter Bezugspersonen häufig zu beobachten und geben keinen Anlass, nach etwaigen Auslöserereignissen für diese Handlungen zu suchen. Auch unter Kindern seltene sexuelle Verhaltensweisen wie das Einführen von Gegenständen in Anus oder Vagina oder oral-genitale Kontakte haben noch keine Indikatorfunktion für einen stattgefundenen sexuellen Missbrauch.
Als problematisch ist sexuelles Verhalten von Kindern dann zu bewerten, wenn sexuelle Aktivitäten über längere Zeit alle anderen Interessen dominieren, wenn das Verhalten durchweg mit negativen Affekten verbunden ist, wenn das Kind keine anderen Formen der Kontaktaufnahme nutzen kann oder wenn die sexuellen Aktivitäten sich ausschließlich auf wesentlich jüngere Kinder beziehen und aggressiven Charakter haben. Da aber auch hierfür andere Probleme ursächlich sein können, ist Sorge zu tragen, dass nicht vorschnell ein Verdacht des sexuellen Missbrauchs an das Kind herangetragen wird, um eine unnötige Belastung des Kindes und eine mögliche suggestive Einflussnahme zu vermeiden (vgl. Volbert, 1999; Volbert und Steller, 2004 ).
Die vorschnelle Klassifikation einer sexuellen Verhaltensäußerung eines Kindes als erklärungsbedürftig und als möglichen Hinweis auf sexuellen Missbrauch kann in der Konsequenz nicht nur zur Induktion einer Aussage über einen tatsächlich nicht stattgefundenen sexuellen Missbrauch führen, sondern tangiert sicherlich auch in negativer Weise die weitere Sexualentwicklung des Kindes.
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Verfasserin:
PD Dr. Renate Volbert
Diplom-Psychologin
Charité, Institut für Forensische Psychiatrie
Limonenstraße 27
12203 Berlin
* Fußnote 1: Da der sexuelle Missbrauch in diesen Untersuchungen in der Regel als traumatisches Ereignis gewertet wurde, wird hierin jedoch im Wesentlichen nur deutlich, dass bei der einen Gruppe ein spezifisches traumatisches Ereignis bekannt war, bei der anderen ein solches nicht vorlag oder nicht bekannt war, sagt aber wenig über Unterschiede im klinischen Bild.
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** Fußnote 2: Es handelt sich um einen Fragebogen für Eltern von zwei- bis zwölfjährigen Kindern, der Items zu verschiedenen sexuellen Verhaltensäußerungen von Kindern erfasst und anhand der Angaben von 880 Müttern normiert wurde.
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