Fachwissen

Sexuelle Frühreife

Schwanger nicht selten bereits mit 14 Jahren!

Gisela Gille, Christine Klapp

aus korasion Nr. 3, September 2002

Teenager-Schwangerschaften häufen sich in Deutschland seit einigen Jahren bedenklich, ebenso Schwangerschaftsabbrüche bei Minderjährigen. Eine Ursache dafür ist mangelhaftes Wissen. Das belegt eine Studie des Robert-Koch-lnstituts in Berlin. Diese Studie zeigt zugleich einen Weg aus der Krise: Gezielte Aufklärungsgespräche durch die „Ärztliche Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau“ in den Schulen können Mädchen fehlendes Wissen vermitteln.

Mehr als 7 000 minderjährige Mädchen brachten im Jahr 2000 in Deutschland ein Baby zur Welt – rund 45 % mehr als 1998. Bei den unter 14Jährigen verdoppelte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Mütter von 77 auf 161.

Dramatisch stieg zudem die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche bei Teenagern: Allein von 2000 auf 2001 wuchs sie um ein Fünftel von 5 763 auf 6 909. Ebenfalls um 20 % nahmen die Abbrüche bei Mädchen unter 14 Jahren zu – von 574 auf 696. Diesen alarmierenden Trend erhärten Zahlen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden: Schwangerschaftsabbrüche bei Mädchen unter 15 Jahren stiegen von 1996 bis 2001 um 90 %.

„Der horrende Anstieg der Schwangerschaftsabbrüche bei Jugendlichen ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass die Mädchen immer früher geschlechtsreif werden“, erklärte Dr. Gisela Gille, Ärztin aus Lüneburg und Vorsitzende der „Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V.“ (ÄGGF ), auf dem 54. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, der vom 10.09. bis 14.09.2002 in Düsseldorf stattfand.

Hierzulande bekommen Mädchen ihre erste Menstruation heute im Durchschnitt bereits mit zwölf Jahren. Viele sind sogar schon mit neun oder zehn Jahren geschlechtsreif. Entsprechend früher machen viele ihre ersten sexuellen Erfahrungen - vom Küssen übers Petting bis zum Geschlechtsverkehr. Koitus-Erfahrungen hatte nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung im Jahr 2001 bereits jede zehnte 14Jährige und jede vierte 15Jährige.

„Eine Folge des frühen Einstiegsalters in die Sexualität ist, dass etwa 18 % der 14- bis 15jährigen Mädchen beim ersten Geschlechtsverkehr nicht verhüten“, berichtete G. Gille. Eben dies möchte sie zusammen mit ihren Kolleginnen der ÄGGF verhindern. Zudem wollen die Ärztinnen der vor genau 50 Jahren gegründeten Gesellschaft Mädchen auf der Suche nach ihrer sexuellen Identität begleiten. Deshalb besuchen sie Schulen und führen dort jeweils einmal im Schuljahr - meist im Rahmen der Sexualkunde - ein anderthalbstündiges Gespräch mit Mädchen (teils auch mit Jungen) der Schulklassen 6 bis 10. Im Jahr 2001 kamen über 46 000 Schülerinnen und Schüler zu den 2 311 „Ärztinnen-lnformationsstunden“, die nicht in Form von Vorträgen, sondern als Dialogveranstaltungen ablaufen.

Die Ergebnisse dieses Engagements untersuchte kürzlich die Forschungsgruppe „Kinder- und Jugendgesundheit“ des Robert-Koch-lnstituts (RKI) in Berlin im Rahmen einer Studie mit 1 911 Schülerinnen und Schülern aus Berlin, Hamburg und Nordrhein-Westfalen. Befragt wurden 881 Mädchen aus den sechsten Klassen sowie 1 030 Mädchen und Jungen aus den neunten oder zehnten Klassen. Alle beantworteten einen umfangreichen anonymen Fragebogen. Danach besuchte ein Teil die Ärztinnen-lnformationsstunden.

Zwei Wochen später füllten alle Schülerinnen und Schüler den gleichen Fragebogen erneut aus. Aus den Antworten auf insgesamt 133 Fragen zum Wissen über Sexualität sowie zu Meinungen und Einstellungen gewannen die Forscher detaillierte Einsichten: Sie konnten nun bewerten, welche Kenntnisse und Einstellungen vor den Informationsstunden vorhanden waren und welche Wirkung das Engagement der Ärztinnen hatte.

Dildo, Dreier, Domina

Teenager hantieren zwar souverän mit Begriffen wie „Dildo“, „Dreier“ oder „Domina“. Aber solche „Fakten“ bleiben in der Regel oberflächlich, wandeln sich (noch) nicht zu nutzbarem Wissen - auch in so wichtigen Themenbereichen wie Empfängnisverhütung und Schwangerschaft. Über diese beiden Themen, das gaben 61 % der befragten Sechstklässlerinnen an, sei im Unterricht selten oder überhaupt nicht gesprochen worden; dennoch stuften 38 % ihre Kenntnisse als „gut“ bis „sehr gut“ ein. Bei den Schülerinnen der neunten und zehnten Klassen hatten 31 % in der Schule nicht darüber gesprochen; dennoch glaubten 71 %, sich „gut“ bis „sehr gut“ auszukennen.

Die hohe Selbsteinschätzung der Mädchen ist somit nicht durch entsprechendes Wissen unterfüttert. So überschatten Ängste das Thema Empfängnisverhütung - Folge eines eklatanten Informationsmangels: 60 % der befragten Mädchen befürchtet, die Pille mache dick; fast die Hälfte meint gar, sie könnte Krebs verursachen; nahezu zwei Drittel trauen der Sicherheit des Verhütungsmittels nicht. Noch mehr als die Pille fürchten die Mädchen jedoch die Schwangerschaft.

„Darum schließen viele Mädchen einen pragmatischen Frieden mit der Pille“, kommentierte G. Gille, ohne jemals über ihre Sorgen und Befürchtungen ausführlich sprechen zu können.“ Hinzu kommt der soziale „Erfolgsdruck“ nach dem Motto „alle außer mir“.

Die befragten Mädchen schätzten den Anteil der Altersgenossinnen, die bereits Geschlechtsverkehr haben, deutlich höher ein als die tatsächliche, in Umfragen ermittelte Quote. So glaubten zwei von fünf Schülerinnen, 60 % der 16Jährigen hätte den ersten Koitus bereits hinter sich; jede Zehnte meinte gar, diese Erfahrung hätten schon 80 % gemacht. Die richtige Antwort laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: 40 %.

Solche Wissensmängel und Fehleinschätzungen lassen sich freilich rasch beheben. Vor der Ärztinnen-lnformationsstunde beantwortete die Hälfte der Sechstklässlerinnen die Frage: „Ab wann kann ich schwanger werden?“ falsch. Zwei Wochen nach der Informationsstunde wussten vier Fünftel Bescheid: Sie können prinzipiell mit dem Einsetzen der ersten Periode schwanger werden. Vor dem Gespräch mit den Ärztinnen kannten 82 % der 13- bis 19Jährigen nicht die „fruchtbaren Tage“; danach konnten 67 % der Schülerinnen das „Konzeptionsoptimum“ richtig angeben. Bei der ersten Befragung wussten 74 % nicht, wann die „Pille danach“ nach dem Verkehr spätestens eingenommen werden muss; beim zweiten Test gaben 72 % die richtige Zeitspanne an.

Gute Noten für die engagierten Ärztinnen

„Das Ergebnis war hervorragend“, kommentierte Dr. Christine Klapp von der Klinik für Geburtsmedizin der Charité in Berlin. Die Mädchen der sechsten Klassen verbesserten ihr Wissen um 84 %, die Schülerinnen der neunten und zehnten Klassen um 32 %. Gute Noten bekamen die engagierten Ärztinnen insbesondere von ihren jungen Gesprächspartnerinnen. 95% der Sechstklässlerinnen beurteilten die Informationsstunde als „gut“ bis „sehr gut“, obwohl zuvor 40 % geglaubt hatten, sie könnten nichts dazulernen.

Bei den Schülerinnen der neunten und zehnten Klasse fanden 88 % die Stunde „gut“ bis „sehr gut´“; immerhin 55 % hatten sich davon einen Wissenszuwachs erwartet.

Beim Gespräch über Sexualität sind Vertrauen und Glaubwürdigkeit besonders wichtig. „Man muss über das, worüber man spricht, auch gerne sprechen“, betonte G. Gille. Das könne man nicht von jedem Biologielehrer erwarten. Die 42 Ärztinnen der ÄGGF sind allesamt Mütter. Sie sind familien- und berufserfahren. Und sie sprechen mit den Mädchen von Frau zu Frau.

Zu Rückfragen stehen zur Verfügung:

Dr. med. Gisela Gille
1. Vorsitzende der Ärztlichen Gesellschaft zur Gesundheitsförderung der Frau e.V.
Drögenkamp 1
21335 Lüneburg
Tel.: 041 31733746
Fax: 041 31733747
E-Mail: gille@noSpam.uni-lueneburg.de

Dr. med. Christine Klapp
Klinik für Geburtsmedizin
Charité, Universitätsklinikum der Humboldt-Universität zu Berlin
Campus-Virchow-Klinikum
Augustenburger Platz 1
13353 Berlin
Tel.: 030 450564143 (-64067)
Fax: 030 450564904,
E-Mail: c.klapp@noSpam.berlin.de